Es kommt immer häufiger vor, dass sich Jugendliche mit kurdischem und türkischem Migrationshintergrund in die Haare kriegen. Auf einigen Demonstrationen und Kundgebungen kam es häufiger zu Ausschreitungen. Damit aber nicht genug: Die Polarisierung ist auch längst in Schulen, Betrieben und Stadtteilen angekommen und stößt in der deutschen Bevölkerung oft auf Unverständnis und Ablehnung.
Es ist die Rede von einer Generation, die in Deutschland geboren und aufgewachsen ist. Eine Generation, die hier sozialisiert wurde. Warum dann diese Neugier und das Interesse für das Land, aus dem die Eltern oder sogar Großeltern kommen? Warum lässt man sich für die Themen der Türkei mehr hinreißen, als für soziale Fragen hier in Deutschland? Das ist eine Frage, die sich nicht nur die „deutsche“ Bevölkerung stellt, sondern auch Wissenschaftler und Politiker.
Um dieser Frage auf den Grund zu gehen, reicht eine Seite in der Jungen Stimme nicht. Dahinter steckt eine Migrationsgeschichte. Über verlassene Dörfer und Häuser, Familien und Freunde, über Sehnsüchte, Träume und das Streben nach Wohlstand und Wohlbefinden. Eine lange Geschichte, über die wir als DIDF-Jugend, die seit über 20 Jahren unter den kurdischen und türkischen Jugendlichen politische Arbeit betreibt, ein paar Worte verlieren möchten.
Welche Rolle spielt der deutsche Staat?
Die Identitätsfindung ist für viele Jugendliche eine wichtige Etappe im Leben. Egal ob mit oder ohne Migrationshintergrund (MGH). Bei Jugendlichen mit MGH ist diese Suche allerdings umso schwieriger. „Wer bin ich? Was wird aus meinem Leben? Was ist meine Funktion in der Gesellschaft und zu wem gehöre ich?“, sind Fragen vieler Jugendlicher.
Dass sich die BRD erst seit wenigen Jahren als ein Zuwanderungsland sieht, hat die Situation für Jugendliche mit Migrationshintergrund nicht einfacher gemacht. Obwohl viele hier geboren sind und hier sozialisiert wurden, fühlen sich viele als Deutsche, aber trotzdem immer noch etwas anders, als jene ohne Migrationshintergrund. Noch immer müssen, auch in der 3. und 4. Generation, Jugendliche mit MGH Rassismus erfahren und sind in der Schule, während der Ausbildungssuche, bis hin zur Wohnungssuche von struktureller Diskriminierung betroffen. Diese Erfahrungen vermitteln vielen das Gefühl, nicht dazuzugehören.
Die großen Parteien schaffen auch einen Nährboden dafür. Statt rassistischen Parteien, wie der AFD (Alternative für Deutschland), mit sozialer Gleichberechtigung und Teilhabe in allen Lebensbereichen entgegen zu wirken, steigen sie auf den Zug der Rechtspopulisten auf und reden von Grenzschließung, von Quoten gegen Geflüchtete oder steigender Kriminalität unter „Ausländern“.
Auch wenn ein kleiner Teil der türkeistämmigen Jugendlichen nicht der finanziell schwachen Schicht angehört und eine Ignoranz gegen diese Politik entwickelt hat, ist die große Mehrheit der Türkeistämmigen in den altbekannten Stadtteilen der Großstädte zu finden und gehört zu den sozial Benachteiligten der Gesellschaft.
Welche Rolle spielt der türkische Staat?
Die Türkeistämmigen sind, mit über 3 Millionen Menschen in Deutschland, ein gefundenes Fressen für den türkischen Staat. Seit der Arbeitsmigration vor über 50 Jahren sind dadurch Milliarden von Euro in die türkischen Staatskassen geflossen. Nicht nur der finanzielle, sondern auch der politische Einfluss bringt dem türkischen Staat Vorteile. Nicht umsonst hatte der damalige Ministerpräsident und heutige Staatspräsident R.T. Erdogan vor einigen Jahren bei einem seiner Besuche in Deutschland vor zehntausenden Zuschauern die Botschaft versendet, dass sich jeder in dem Land, in dem man lebt, integrieren soll. Sie sollen ein Teil der Politik werden aber dabei nicht vergessen, wo sie herkommen und zugunsten der Türkei Politik betreiben.
R.T. Erdogan ist nur die Spitze des Eisbergs, der dieses Begehren offen aussprach. Es sind die Lobbyisten der Türkei, die hier die eigentliche Gefahr für das Zusammenleben der Türkeistämmigen und Deutschen darstellen. Es sind Verbände, wie DITIB, UETD oder Milli Görüs, die versuchen die Türkeistämmigen für sich zu vereinnahmen und versuchen die Politik und Interessen der türkischen Regierung hier zu verbreiten. Es werden Institutionen geschaffen.
Im Jahre 2010 wurde ein Präsidium für Auslandstürken gegründet. Angeblich um sich für die Belange von mehr als fünf Millionen Türkeistämmigen im Ausland zu kümmern. Sogar die Parlamentswahlen der Türkei wurden hierhergebracht. Zum ersten Mal durften türkische Staatsbürger, die im Ausland leben, im Jahr 2015 bei den Parlamentswahlen mitstimmen. Ein Nachteil für das Zusammenleben hier, ein Vorteil für die AKP-Regierung in der Türkei. Dutzende Busse sind vor den DITIB-Moscheen gestartet, um die Menschen zu den türkischen Konsulaten zu fahren. Mit einem Ziel: Stimmen für das amtierende Staatsoberhaupt.
Die Zahl der Türkeistämmigen in Deutschland und die Lobby der türkischen Regierung nahestehenden Verbände und Organisationen sind so groß und stark, dass vieles, was in der Türkei geschieht, hierher reflektiert wird. Auch diejenigen, die nicht im Einfluss der reaktionären (rückschrittlichen) Kräfte hier stehen, stehen über andere Umwege unter dem Einfluss der Türkei. Die hier verfügbaren Medienorgane der Türkei spielen hierbei eine wichtige Rolle. Zu Tausenden werden regierungsnahe Zeitungen, wie die Tageszeitung „Sabah“, in Deutschland verkauft. Viele der TV-Sender strahlen ihre Sendungen in für Europa angepassten Versionen aus. Hunderttausende Türkeistämmige stehen somit unter dem Einfluss der türkischen Regierung und deren Vertreter hier.
Wenn die türkische Regierung überhaupt einmal für ihr Vorgehen kritisiert wird, dann greift der Staat auch sogar selbst ein. Als die türkische Justiz kritisiert wurde, wegen der Verhaftung der HDP (Demokratische Partei der Völker) Abgeordneten in der Türkei, meldete sich der türkische Justizminister Bekir Bozdag persönlich zu Wort. Er sagte: „Sie müssen sehen und verstehen, dass die türkische Justiz genauso neutral und unabhängig ist, wie die deutsche. Rechtsstaat und Freiheiten gibt es nur für Deutsche“, sagte der Minister. „Wenn Sie ein Türke in Deutschland sind, haben Sie überhaupt keine Rechte.“ Solch eine Aussage ist nicht nur eine Abfuhr gegen die Kritik aus Deutschland, sie ist auch eine Ansage und Provokation an die Türkeistämmigen.
Bewusstsein schaffen
Die Widerspieglung der türkischen Verhältnisse nach Deutschland/Europa und die Identitätsfrage, die soziale Ungleichheit und Ausgrenzung wird zu einem gefährlichen Cocktail. Nicht nur zwischen den Türkeistämmigen und der Mehrheitsgesellschaft, auch zwischen Jugendlichen mit kurdischem und türkischem Migrationshintergrund. Die rassistische Propaganda gegen die kurdische Bevölkerung in der Türkei, findet auch hier Gehör. Mit fast derselben Intensität. Es ist schon schlimm genug, dass die Türkeistämmigen von zwei Seiten polarisiert werden. Hinzu kommt eine weitere Kluft zwischen diesen Jugendlichen. Für einen Außenstehenden ohne Migrationshintergrund ist dieser Konflikt zwischen den „beiden“ Seiten schwer zu verstehen.
Auch wir, die fortschrittlichen Kräfte, gehen zu den von der Türkei hierher reflektierten Themen auf die Straßen. Nicht weil wir darauf aus sind, auch ein Teil der Maschinerie zu sein, die sich nur mit der Problematik aus der Türkei beschäftigt. Die DIDF-Jugend ist ein Jugendverband, der von genau diesem Klientel gegründet worden ist. Von türkischen und kurdischen Jugendlichen aus der Türkei. Wir versuchen aber zum einen ein Gegenpol gegen die Hassparolen hier zu entwickeln und solidarisieren uns mit den fortschrittlichen und demokratischen Kräften in der Türkei. Zum anderen, und das ist das Eigentliche, versuchen wir den türkeistämmigen Jugendlichen ein Bewusstsein für ihre Lebenszustände hier in Deutschland zu verschaffen. Wir sind eine Brücke zwischen Jugendlichen mit und ohne Migrationshintergrund! Der gemeinsame Kampf für Gleichberechtigung, gegen Rassismus und soziale Missstände in der Schule, an der Uni, im Betrieb und in den Stadtteilen ist einer der wichtigsten Ansätze für ein Zusammenleben. Wer kein Bewusstsein für die gesellschaftlichen Verhältnisse, in denen man selbst lebt, schaffen kann, kann auch kein Bewusstsein für die Verhältnisse in einem anderen Land bilden.
Yusuf As