„Tiefe Besorgnis“, „Äußerst besorgniserregend“, „Alarmierende Signale“ – das sind die Worte, mit denen führende EU-Politiker die Situation in der Türkei schildern. Irgendwie sind alle ziemlich besorgt, aber Konsequenzen für die Unrechtsregierung um Staatspräsident Erdogan gibt es nicht. Haben die EU und allen voran Deutschland überhaupt Interesse daran, dass die AKP Regierung zur Rechenschaft gezogen wird?
Die aktuelle Lage der Türkei
In den letzten Monaten ereignete sich in der Türkei tagtäglich etwas Neues. Die Entwicklungen geschehen so schnell, dass man kaum noch hinterherkommt. Doch eins kann man immer wieder beobachten: wie die Repression steigt. Zeitungen, Fernsehsender, Zeitschriften und Nachrichtenagenturen werden geschlossen. Zurzeit sind fast 160 Journalisten in Haft. Gewählte Bürgermeister werden verhaftet und Kommunen unter Zwangsverwaltung gestellt. Zuletzt wurden 12 Abgeordnete der demokratischen Oppositionspartei HDP verhaftet. Die Situation in der Türkei hat sich besonders nach zwei großen Geschehnissen zugespitzt. Das Erste waren die Parlamentswahlen im Juni 2015. Dabei konnte die HDP als demokratische Alternative ins türkische Parlament einziehen. Da das bei einer Hürde von 10 % den meisten kleinen Parteien nicht möglich ist, war es ein großer Sieg für die HDP und gleichzeitig ein Schlag gegen die AKP. Zwar konnte die Partei um Staatspräsident Erdogan noch klar die meisten Stimmen bekommen, aber nicht mehr genug, um die absolute Mehrheit im Parlament zu besetzen und somit eine von der AKP langersehnte Verfassungsänderung durchzusetzen, die eine Art Präsidialsystem nach amerikanischem Vorbild in der Türkei schaffen sollte.
Daraufhin schlug die AKP einen stark nationalistischen und gewalttätigen Kurs an. Über kurdische Städte wurden Ausgangssperren verhängt, die Städte quasi in den Kriegszustand versetzt. Auch gegen die Oppositionskräfte wurde immer härter vorgegangen.
Das zweite Ereignis war der fehlgeschlagene Putschversuch vom 15. Juli 2016. Diesen erklärte Erdogan bald zum „Geschenk Gottes“. Der Ausnahmezustand wurde verhängt und dauert bis heute an. Alles was nicht regierungskonform ist, fällt den „Säuberungsmaßnahmen“ zum Opfer.
Die von der Regierung ausgehende Aggression und Gewalt traten jedoch nicht erst in den letzten Monaten auf. Man bereitete sie Schritt für Schritt vor. Die AKP attackiert seit ihrem Amtsantritt jeglichen Kampf um Menschenrechte, Meinungsfreiheit, Arbeitskämpfe, für Frauen- und Minderheitenrechte usw. Die letzten Entwicklungen sind lediglich die bisherigen Höhepunkte dieses Prozesses.
Wir erleben einen ungezügelten, totalen Angriff gegen die kurdische Bevölkerung, gegen die Frauen- und Arbeiterbewegung. Jedem Kampf um Rechte und Freiheiten wird mit staatlicher Gewalt begegnet.
Und wie steht Deutschland dazu? Eine Beziehung voller Höhen und Tiefen- Deutschland und die Türkei
Deutschland und die Türkei hatten schon immer eine mehr als zweifelhafte Beziehung. Bereits die historischen Vorgänger der beiden Staaten, das Deutsche Kaiserreich und das Osmanische Reich, waren Verbündete und Handelspartner. Damals, wie heute, wurde vor allem mit einem gehandelt- Waffen. Eine Partnerschaft mit dem strategisch wichtig gelegenen Land am Bosporus war stets im Interesse Deutschlands. So war es auch Verbündeter, als der Genozid an 1,5 Millionen Armeniern in der Türkei begangen wurde. Die Devise war immer- wegschauen, solange die eigenen Interessen vertreten werden.
Ein Konzept, das bis heute noch angewendet wird. Die Türkei ist einer der größten Käufer deutscher Rüstungsgüter. Allein im ersten Halbjahr 2016 importierte die Türkei Rüstungsgüter im Wert von 76,4 Mio. Euro aus Deutschland. Damit ist sie auf Platz 8 der Abnehmer. Diese Waffen sind es, die gegen die eigene Bevölkerung in den kurdischen Gebieten der Türkei eingesetzt werden, mit denen Terrorgruppen, wie der IS ausgestattet werden.
Zudem bildeten deutsche Beamte in der Vergangenheit auch türkische Sicherheitskräfte, u.a. im Umgang mit Großdemonstrationen, aus. Jene Polizisten, die während der Gezi-Proteste und anderen Demonstrationen mit größter Gewalt gegen die Demonstrierenden vorgingen. Momentan sind hunderte Bundeswehrsoldaten in der Türkei stationiert. Das militärische Interesse Deutschlands liegt in einer Vorreiterposition der Türkei im Nahen Osten, durch die man seine eigenen finanziellen und militärischen Interessen durchsetzen kann.
Nicht unerheblich sind auch die ökonomischen Investitionen in der Türkei. Deutsche Unternehmen sind zu tausenden als Geldgeber in der Türkei vertreten.
Die Spitze des Eisberges
Der absolute Höhepunkt dieser Beziehung ist das Abkommen, das die EU mit der Türkei zur Eindämmung der Geflüchtetenbewegung abgeschlossen hat. Dieser schmutzige Deal hat eine sehr einfache Quintessenz: Die Türkei nimmt illegal eingewanderte Geflüchtete aus Europa zurück und sorgt dafür, dass keine mehr in die „Festung“ Europa durchkommen, dafür wird die Visumspflicht türkischer Staatsbürger aufgehoben, die Türkei bekommt 6 Milliarden Euro für die „Verbesserung der Lage der Geflüchteten“ und die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei werden wieder aufgenommen und beschleunigt. Zwar wurde bereits von beiden Seiten gedroht das Abkommen auszusetzen, wie von Seiten der Türkei nach der Armenienresolution im Deutschen Bundestag oder zuletzt nach dem Fortschrittsbericht der EU über die Türkei von Seiten der EU. Doch spielt dieses Abkommen beiden in die Hände und die „Sorgen“ der EU über die geplante Wiedereinführung der Todesstrafe oder die zahlreichen Menschenrechtsverletzungen sind wohl nichts anderes als Krokodilstränen.
Dann werden auch Staaten, wie die Türkei, in denen keine Pressefreiheit, keine Meinungsfreiheit herrscht, in der Frauen und Minderheiten permanent unterdrückt werden, in denen jüngst sogar gewählte Abgeordnete, wie Selahattin Demirtas und Figen Yüksekdag (beide HDP), verhaftet und sogar unter Anklage gestellt werden können, zu „sicheren Herkunftsländern“ erklärt. Allein die Vorstellung, dass die Türkei, die momentan kriegerische Handlungen an ihrer eigenen Bevölkerungen durchführt, ein sicheres Herkunftsland oder Anlaufstelle für Geflüchtete sein könnte, ist abstrus.
Aber genau wie den Mächtigen Europas egal ist, was aus den Geflüchteten in einem Land, wie der Türkei, wird, so geheuchelt ist auch die Sorge, um die Menschenrechte dort. Der Friedensnobelpreisträger EU hat bereits in der Vergangenheit bewiesen, dass Menschenrechte, Pressefreiheit, Frauen- und Minderheitenrechte nur als Vorwand dienen, um seine eigenen Interessen durchzusetzen. Wenn die EU es mit all der Besorgnis ernst meinen würde, hätte sie schon längst Sanktionen oder sogar ein Handelsembargo gegen die Türkei verhängt und die Beitrittsverhandlungen sofort beendet.
Solange die Türkei aber eben jene Interessen im Nahen Osten durchsetzt, kann auch über Menschenrechtsverstöße hinweggesehen werden und die Türkei „ein wichtiger Partner“ bleiben.
Alev Bahadir
ZAHLEN & FAKTEN
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Die Türkei hat allein im ersten Halbjahr 2016 Rüstungsgüter im Wert von 76,4 Mio. Euro von deutschen Rüstungsunternehmen gekauft
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Die Türkei ist auf Platz 8 der Abnehmer von deutschen Rüstungsgütern. Letztes Jahr war sie noch auf Platz 25
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66,7 % der Exporte in diesem Jahr machen Teile für Flugzeuge, Triebwerke und Bodengeräte, sowie „unbemannte Luftfahrzeuge“ – umgangssprachlich auch „Drohnen“ genannt – aus. Daneben wurden Prüfstände für Hubschrauber, sowie Kommunikations- und Datenverarbeitungsausrüstung exportiert.
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Im vergangenen Jahr wurden 270 Ausfuhrgenehmigungen für deutsche Rüstungsexporte in die Türkei erteilt. Darunter waren von Handfeuerwaffen, über militärische Ketten- und Radfahrzeuge (also Panzer), bis hin zu Bomben, Torpedos und Flugkörper alles dabei.
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Die Zahl deutscher Unternehmen bzw. türkischer Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung in der Türkei lag im Jahr 2015 bei 6500
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Seit 1980 haben deutsche Banken und Konzerne 12 Milliarden Euro in der Türkei investiert
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Die Bundeswehr hat auf dem Militärstützpunkt in Incirlik 6 Tornado Jets positioniert. Diese werden für Aufklärungsflüge über Syrien genutzt. Zudem befindet sich dort ein Tankflugzeug zur Luftbetankung von Kampflugzeugen der Bundeswehr. Etwa 250 Bundeswehrsoldaten sind zur Zeit in Incirlik stationiert