Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin,
in Kürze besuchen Sie die Türkei und kommen mit Ihrem türkischen Amtskollegen Recep Tayip Erdoğan zu Gesprächen zusammen. Wir sind ein in Deutschland, u.a. von türkisch- und kurdischstämmigen Deutschen, gegründeter überethnischer, interreligiöser und vielsprachiger Zusammenschluss von Organisationen. Unter dem Namen „Demokratische Gemeinschafts-Plattform“ haben wir eine Arbeitsgemeinschaft gegründet, die sich insbesondere bei Fragen rund um Themen wie Integration, Migration und die Türkei positioniert. Anlässlich Ihres Besuches möchten wir unsere Gedanken bezüglich der in der Türkei vorherrschenden Probleme ausdrücken, deren Auswirkungen auch Deutschland betreffen. Wir möchten Ihnen gegenüber als Bundeskanzlerin unsere Erwartungen diesbezüglich formulieren.
Ihr Staatsbesuch findet in einer Zeit statt, in der Ihr Amtskollege Erdoğan mit seiner Partei AKP seit über 10 Jahren die Regierung in Ankara führt. Obwohl zu Beginn der AKP-Ära demokratische Reformen und friedliche Lösungen für die virulenten Probleme in der Türkei angekündigt wurden, hat es die türkische Regierung trotz dieser über 10-jährigen Legislatur leider nicht geschafft, die ernsthaften Probleme mit rechtstaatlichen Mitteln zu lösen. Im Gegenteil: Durch die einseitige Politik wurden die Gräben zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen mehr denn je vertieft.
Die Türkei ist heute das Land auf der Welt, in dem die meisten Journalisten und Journalistinnen inhaftiert sind. Da es keine Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit gibt, sitzen nicht nur Journalisten und Journalistinnen in Haft, sondern auch Juristen und Juristinnen, Abgeordnete, Bürgermeister und Bürgermeisterinnen sowie viele andere Bürger und Bürgerinnen, von denen die überwiegende Mehrheit Kurden und Kurdinnen sind. Insgesamt befinden sich über 10.000 Menschen aufgrund ihrer Überzeugungen in türkischen Gefängnissen. Die AKP Regierung toleriert keine Vielfalt in der Türkei, weder eine politische, noch eine religiöse, noch eine ethnische oder kulturelle. So hat sie es binnen ihrer Regierungszeit geschafft, die Türkei in ein großes Gefängnis zu verwandeln.
Die Aleviten und Alevitinnen, die weithin als Motorkraft der Demokratie in der Türkei bekannt sind, werden in der freien Auslebung ihres Glaubens behindert. Während in Deutschland die alevitische Gemeinde als Religionsgemeinschaft anerkannt ist und wie z.B. in Hamburg Cem-Häuser als Glaubensstätten gleichwertigen Schutz wie Kirchen und Synagogen genießen, forciert die AKP die Assimilation der Aleviten in ihr System, das auf einer Synthese von Türkentum und Islam beruht. Es ist uns aus keinem anderen Land der Welt bekannt, dass Gläubige für den Besuch ihrer Glaubensstätten Eintritt bezahlen müssen. Jedoch müssen Aleviten beispielsweise bei Wallfahrten zur Stätte des alevitischen Heiligen Hünkâr Bektaş-i Veli in Nevşehir Eintritt bezahlen. Alevitische Kinder werden, trotz anderslautender Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, noch immer zu sunnitischem Pflichtreligionsunterricht gezwungen. In einer gleichen Lage befinden sich christliche und ezidische Minderheiten in der Türkei. Die Morde an christlichen Missionaren oder die Ermordung des armenischen Journalisten Hrant Dink sowie des katholischen Priester Andrea Santaro stellen keine Taten von verwirrten Einzeltätern dar. Der zögerliche Umgang der türkischen Justiz in der Aufklärung und die Verschleppung der Aufarbeitung sowie der Aufdeckung der Hintermänner, die bis in den Staatsapparat reichen, legen die antidemokratische Haltung der AKP-Regierung offen.
Auch viele Verbote im Film-, Theater- und Literaturbereich werden weiterhin aufrechterhalten. Einige Veröffentlichungen von Dichtern und Denkern werden offen zensiert.
Die Rechte der Gewerkschaften, der Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen werden systematisch beschränkt. Arbeitsschutz ist kaum vorhanden. Aufgrund dessen verlieren durchschnittlich ca. 1.000 Arbeitnehmer und Arbeitnehmerinnen jedes Jahr durch Betriebs- und Arbeitsunfälle ihr Leben.
In der Kurdenfrage gibt es noch immer keine politische Lösung, die geeignet ist, den anhaltenden Krieg im eigenen Land zu beenden. Aufgrund der andauernden Militär- und Polizeieinsätze seitens der türkischen Regierung haben alleine im Sommer 2012 mehr als 1.000 Menschen durch den Krieg ihr Leben verloren. Die AKP-Regierung, die zunächst die Einsicht äußerte, dass in dieser Sache durch Gewalt keine Lösung möglich
sei, eskalierte die Situation weiter. Im November 2012 wurden auf den persönlichen Wunsch des türkischen Ministerpräsidenten Erdoğan hin, erneut Gespräche mit dem auf der Insel İmralı inhaftierten Vorsitzenden der PKK, Herrn Abdullah Öcalan, aufgenommen. Aber auch diese historische Chance wurde bislang nicht genutzt: Die Gespräche, die vermeintlich zur friedlichen Lösung der kurdischen Frage beitragen sollen, haben nicht zu konkreten Schritten der türkischen Regierung geführt. Zum wiederholten Male enttäuscht die AKP-Regierung türkische und kurdische Erwartungen, da weiterhin täglich Dutzende von Menschen verhaftete werden, die sich zivilpolitisch und gesellschaftlich engagieren. Auch die Militäroperationen und Bombardierungen der türkischen Armee auf türkischem und irakischem Staatsgebiet halten unvermindert an.
Parallel zu diesen Entwicklungen wurden am 9. Januar 2013 in der französischen Hauptstadt Paris die drei bekannten kurdischen Aktivistinnen Sakine Cansız, Fidan Doğan und Leyla Şaylemez ermordet. Bisherige Ermittlungen deuten darauf hin, dass die Hintermänner dieser Morde dem MIT bzw. dem türkischen Zweig der paramilitärischen Geheimorganisation „Gladio“ angehören. Trotz erdrückender Indizien, zeigt die türkische AKP-Regierung keinerlei Interesse an der Aufklärung dieser Morde. Im Anschluss an die Morde in Paris, drohte der türkische Ministerpräsident Erdoğan im türkischen Fernsehen offen damit, dass Ähnliches auch in Deutschland passieren könne. Gleichzeitig kritisierte er, dass Deutschland und andere europäische Länder die hier lebenden Kurden und Aleviten unterstützen würden, ungeachtet der Tatsache, dass diese Unterstützung lediglich die Wahrnehmung der selbstverständlichen und unteilbaren Bürgerrechte darstellt. Leider ist jedoch zu beobachten, dass aufgrund der unzutreffenden Anschuldigungen des türkischen Ministerpräsidenten der Druck auf kurdische Politiker und Politikerinnen in Frankreich und Deutschland zugenommen hat.
Nach alledem wünschen wir uns von Ihnen, Frau Bundeskanzlerin:
Solange die kriegerischen Auseinandersetzungen in der Türkei nicht beendet sind und Freiheits- sowie Menschenrechte in der Türkei nicht geachtet werden, sollte die Bundesrepublik Deutschland ihre militärische und ökonomische Unterstützung für die Türkei einstellen und die Zusammenarbeit mit der türkischen Regierung überdenken. Wir bitten Sie, dass Sie die oben geschilderten Umstände in Ihren öffentlichen Auftritten und bei Ihren Gesprächen in der Türkei zur Sprache bringen. Schließlich fordern wir ein Ende der Kriminalisierung von Kurden und Kurdinnen, die aufgrund des Krieges, der kulturellen und politischen Verfolgung nach Deutschland geflohenen sind.
In diesem Sinne wünschen wir Ihnen einen erfolgreichen Staatsbesuch. Zugleich hoffen wir, als unterzeichnende Organisationen, insbesondere auf einen konstruktiven Dialog der Bundesregierung mit der hier in Deutschland lebenden kurdischen und alevitischen Bevölkerung sowie mit den demokratischen Organisationen, die die Interessen dieser Bevölkerungsgruppen vertreten.
Mit freundlichen Grüßen
Unterzeichner:
Demokratische Gemeinschafts-Plattform: „AABF (Alevitische Gemeinde Deutschland); YEK-KOM (Föderation kurdischer Vereine in Deutschland); TÜDAY (Menschenrechtsverein Türkei/Deutschland); ATİF (Föderation der Arbeiter aus der Türkei in Deutschland); AGİF (Föderation der ArbeitsimmigrantInnen in Deutschland); ADHF (Föderation für Demokratische Rechte Deutschland); DİDF (Föderation demokratischer Arbeitervereine); ÖDA (Freiheit und Solidarität); Europäisches Friedensparlament; Revolutionäre Proletariat (Yaşanacak Dünya Gazetesi); Die Dersim Initiative aus Europa; KOMKAR (Konföderation der Vereine aus Kurdistan in Europa); Anatolische Föderation; FEDA (Föderation der Demokratischen Aleviten); Die Initiative Liwa Iskenderun; CENI (Kurdisches Frauenbüro für Frieden); FKE (Föderation der Ezidischen Vereine in Deutschland); YXK (Verband der Studierenden aus Kurdistan; BDAJ (Bund der Alevitischen Jugendlichen in Deutschland e.V.); AAKB (Bund der Alevitischen Frauen in Deutschland e.V.)“
Köln, 22.02.2013