„Neues Deutschland“ vom 14.07.2006:
Migrantenverbände und Flüchtlingsorganisationen üben Vorfeld-Kritik am Integrationsgipfel
Von Tom Strohschneider
Migrantenverbände und Flüchtlingsorganisationen haben sich einen Tag vor dem so genannten Integrationsgipfel in Berlin in der Mehrheit skeptisch bis ablehnend über dessen Erfolgsaussichten gezeigt.
„Endlich wird die Politik nicht über die Migranten, sondern mit den Migranten über die Situation reden“, freute sich der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland. Mit seinem Lob am Integrationsgipfel traf Kenan Kolat gestern allerdings nicht den Ton anderer Migrantenverbände und Flüchtlingsorganisationen.
Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime, Ayyub Axel Köhler, nannte den Gipfel „eine Farce“. Hintergrund für die schroffe Absage ist einerseits die Tatsache, dass der Zentralrat nicht eingeladen wurde, dafür aber die konservativ ausgerichtete Türkisch-islamische Union. Andererseits hält Köhler den Gipfel ohnehin für eine Alibiveranstaltung.
Nach Ansicht von Yasar Bilgin liegen die Problemanalysen bereits auf dem Tisch. „Wir brauchen keine Bestandsaufnahme, es gibt Handlungsbedarf“, sagt der Vorsitzende der Türkisch-Deutschen Gesundheitsstiftung und des Rates der Türkischen Staatsbürger in Deutschland.
Die Föderation der Demokratischen Arbeitervereine DIDF bezeichnete einen Gipfel als solchen zwar als positiven Schritt in die richtige Richtung. Die Vorbereitung des Treffens und die politischen Pläne der großen Koalition seien aber „deutliche Anzeichen dafür, dass auf dem Gipfel keine Entscheidungen getroffen werden, die der Integration und dem Zusammenleben“ dienlich wären.
Angesichts von 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund in Deutschland sprachen die Flüchtlingsorganisationen Pro Asyl und der Interkulturelle Rat von einer überwiegend erfolgreich verlaufenden Integration. Dieses Verdienst gebühre allerdings nicht der deutschen Ausländerpolitik, sondern den Migranten und Flüchtlingen. Die Politik sei „weiterhin primär auf Abwehr und Abschottung“ von Nichtdeutschen gerichtet. Dem Gipfel liege zudem ein zu kurz greifender Integrationsbegriff zu Grunde, der ausschließlich auf Defizite der Migranten abstellt und Integration nicht als wechselseitige Aufgabe verstehe. Ähnlich äußerte sich gestern das American Jewish Committee, auf dessen Einlädung rund 30 Vertreter von Migrantenorganisationen in Berlin zusammengekommen waren. AJC-Büroleiterin Deidre Berger kritisierte die mangelnde Wertschätzung für Einwanderer in Deutschland.
Migration in Zahlen
In Deutschland leben derzeit rund 15 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, das sind etwa ein Fünftel der Gesamtbevölkerung. Laut Migrationsbericht 2005 lebten in diesem Jahr rund 6,7 Millionen Nichtdeutsche in der Bundesrepublik. 1951 waren es 506 000, 1970 bereits knapp drei Millionen. Die höchste Zahl wird für das Jahr 1997 angegeben, als laut Statistik etwa 7 365 000 Ausländer in Deutschland lebten.
Die Zahl der Neuzuwandernden ist in den letzten Jahren deutlich zurückgegangen. 2005 kamen nach Angaben des Nürnberger Bundesamtes für Migration rund 450 000 Zuwanderer ins Land. Davon waren jedoch etwa 330 000 Saisonarbeiter und 20 000 Menschen mit befristeten Arbeitsverträgen, die Deutschland bereits nach kurzer Zeit wieder verlassen. Unter den restlichen rund 100 000 machten Familiennachzügler den größten Teil aus. Zudem kamen rund 13 500 jüdische Zuwanderer aus den GUSStaaten sowie Spätaussiedler.
Flüchtlinge spielen in der Zuwanderungsstatistik angesichts der restriktiven Asylpraxis kaum noch eine Rolle. Im vergangenen Jahr wurden von etwa 29 000 Asylanträgen (Erstanträge) nur etwa zehn Prozent so entschieden, dass die Antragsteller mit Bleiberecht rechnen dürfen. Entschieden wurde in dem Jahr über rund 48 000 Anträge, etwa 400 Asylbewerber wurden anerkannt, rund 2700 wurde Abschiebeschutz gewährt. 1992 hatten noch knapp 440 000 Menschen in der Bundesrepublik Asyl beantragt.
Die Zahl der Einbürgerungen geht ebenfalls kontinuierlich zurück. Wurden im Jahr 2000 noch mehr als 186 000 Menschen eingebürgert, waren es 2004 nur noch rund 127 000. Diese Zahl liegt allerdings noch über den Werten der jähre vor 1999. tos
Integration in Zahlen
Schwerpunkte seiner Integrationsanstrengungen sieht der Staat vor allem bei der Förderung von Sprachkenntnissen, der Vermittlung von Einblicken „in die gesellschaftlichen und strukturellen Zusammenhänge der Bundesrepublik“. Ziel sei „letztlich die Identifikation mit der Aufnahmegesellschaft“.
Im jähr 2004 nahmen bundesweit rund 90 000 Menschen an Sprachkursen Teil. Mehr als ein Drittel davon besuchten diese Veranstaltungen in Nordrhein-Westfalen, gefolgt von Bayern (12 500) und Berlin (etwa 10 000). In den östlichen Bundesländern liegt die Zahl der Teilnehmer wegen der insgesamt deutlich niedrigeren Zahl von Migranten bei insgesamt rund 2500.
Unter den Teilnehmern an Sprachkursen waren die Frauen 2004 mit über 72 Prozent deutlich in der Mehrheit. Knapp 15 Prozent der einzelnen Unterrichtseinheiten wurden mit Kinderbetreuung angeboten.
Die verschiedenen Träger boten 2004 mehr als 6300 Sprachkurse an. Unter den Bildungsanbietern stark vertreten sind die Volkshochschulen und kommunale Träger, der Internationale Bund sowie die Arbeiterwohlfahrt. Insgesamt wurden 2004 für die Kursarten (Grundbausteine, Intensiv, Alphabetisierung etc.) rund 21 Millionen Euro aufgewandt.
Die Bundesregierung stellte im Jahr 2005 insgesamt rund 24,5 Millionen Euro für die Integrationsförderung zur Verfügung. Der wichtige Haushaltstitel 68 404, („Zuwendungen für Maßnahmen zur Förderung der Integration von Spätaussiedlern und Ausländern“) lag 2003 und 2004 bei 28,1 Millionen Euro. Im Haushalt 2005 waren nur noch 14,2 Millionen Euro eingestellt, das ist der zweitniedrigste Wert seit 1997.