Ihsan Caralan
Seit dem Putschversuch vom 15. Juli ist ein knappes Jahr vergangen. In dieser Zeit wurden die entscheidenden Fragen jedoch weder gestellt noch beantwortet: Wer steckte dahinter? Wer wäre an die Regierung gekommen, wenn er zum Erfolg geführt hätte? Warum hatte der Geheimdienst oder der Generalstab keine Informationen darüber oder diese eventuell zurückgehalten? Warum sind die zuständigen Geheimdienst-Koordinatoren noch immer im Amt?
Inzwischen wurden zwar die Ermittlungen ausgeweitet, Anklageschriften verfasst, Zehntausende verhaftet. Allerdings konnten auf die Fragen bezüglich des Putschversuchs keine zufriedenstellenden Antworten gegeben werden. Vielmehr gewinnt man den Eindruck, dass sie in einen dicken Nebel verhüllt werden sollen.
Um angeblich die Hintergründe zu durchleuchten, wurde unmittelbar nach dem Militärputsch ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss gebildet. Tatsächlich hat jedoch auch dieser Ausschuss eher für mehr Verwirrung gesorgt, als bestehende Fragen zu klären.
ES LIEGEN VIER VERSCHIEDENE BERICHTE VOR
Nach sechs Monaten Untersuchung war der Ausschuss nicht einmal in der Lage, einen Bericht zu verfassen und Antworten auf die Fragen nach Urhebern, Zielen des Putsches oder nach Gründen, warum er nicht im Vorfeld abgewehrt werden konnte, geben. Die drei Oppositionsfraktionen hatten vor einem Monat dem Abschlussbericht des Untersuchungsausschusses mit der Begründung nicht zugestimmt, er gebe die Sicht der AKP wieder. Nun gaben die Vertreter von CHP, HDP und MHP Erklärungen ab, warum sie ihre Zustimmung verwehrt haben.
Wenn man diese drei umfangreichen Erklärungen berücksichtigt, könnte man von insgesamt vier Abschlussberichten sprechen. Die Erklärung der CHP umfasst 300, die von MHP 200 Seiten. Das wiederum bedeutet, dass der Ausschuss zu keinem gemeinsamen Ergebnis kommen, bzw. seinen Auftrag nicht erfüllen konnte. Deshalb sprechen wir von eigenständigen (Gegen-)Berichten.
Im CHP-Bericht ist die Rede von einem „vorausgesehenen“, „nicht verhinderten“ Putsch, aus „dem man für sich Kapital geschlagen“ habe. Es handele sich also um einen „kontrollierten Putschversuch“. Der CHP-Abgeordnete Sezgin Tanrıkulu überschreibt den Putschversuch – in Anlehnung an den Krimiklassiker von G.G. Marquez, in dem ein angekündigter Mord nicht verhindert wird – mit „Chronik eines angekündigten Todes“. Der CHP-Chef Kılıçdaroğlu vertritt diese These bei jeder Gelegenheit.
Im HDP-Bericht wird zwar die Bezeichnung „kontrollierter Putsch“ nicht verwendet, allerdings dieselbe These vertreten. Hingewiesen wird auf die Bemühungen der AKP-Ausschussmitglieder, die Hintergründe und -männer des Putschversuchs im Dunkeln zu lassen.
Im Bericht der MHP wird kritisiert, dass hochrangige Bürokraten und Militärs wie der für den MIT zuständige Staatssekretär und der Generalstabschef nicht vor den Ausschuss geladen wurden. Für die MHP ist dies der Ausdruck der Bemühungen, die politische Säule des Putschversuchs unaufgeklärt zu lassen.
AKP MÖCHTE TATSÄCHLICH KEINE AUFKLÄRUNG
Eine gemeinsame Feststellung der drei Oppositionsfraktionen im U-Ausschuss ist sehr auffällig: die AKP hat kein Interesse daran, herauszuarbeiten, auf wen der Putschversuch zurückzuführen ist, mit welchen politischen Kräften die Putschisten zusammenarbeiteten, von wem sie geschützt wurden und warum der Putsch nicht verhindert wurde, obwohl es anscheinend genügend Anzeichen dafür gab. Die AKP-Vertreter versuchten mit aller Macht, diese Fragen unbeantwortet zu lassen.
Sicherlich liegt ein offensichtlicher Putschversuch vor. Dabei verloren unzählige Menschen ihr Leben. Hochsensible staatliche Stellen wurden bombardiert. Und das alles, ohne dass die Rolle der Verantwortlichen beim Nachrichtendienst oder Generalstab aufgedeckt worden wäre. Dabei müsste letzteres doch das vordergründigste Ziel der AKP sein, hat sie doch einen gegen sich gerichteten Putschversuch ausmacht! Aus den Berichten der Oppositionsparteien geht jedoch hervor, dass die AKP-Abgeordneten um genau das Gegenteil bemüht waren und alles unternahmen, dass die Wahrheit nicht aufgedeckt wurde.
Welches andere Ziel als die Aufdeckung der Wahrheit hätte die AKP und deren Führung verfolgt, als sie verhinderte, dass der für Nachrichtendienste zuständige Staatssekretär, der Generalstabschef und der Schwager des Staatspräsidenten, der nach eigenen Angaben über den Putschversuch informiert wurde, nicht vor den Ausschuss geladen wurden?
EIN KAMPF GEGEN DIE NEBELKERZEN IST NOTWENDIG
Dass der U-Ausschuss des Parlaments letzten Endes gezwungen war, nicht einen gemeinsamen Abschlussbericht zu veröffentlichen, sondern vier verschiedene Berichte verfasst wurden, ist ein Zeugnis dafür, dass er seinen Auftrag nicht erfüllt hat oder erfüllen konnte. Dass die AKP-Führung dafür verantwortlich zeichnet, ist allseits bekannt. Heute herrscht eine größere Verwirrung über die Hintergründe des Putschversuchs als vor der Gründung des parlamentarischen Untersuchungsausschusses. Und Erdoğan und die AKP-Führung möchten aus dieser Verwirrung Kapital für sich schlagen. Sie ziehen es vor, in trüben Wässern zu fischen. Es ist ein hartnäckiger Kampf erforderlich, um die Wahrheit trotz der zahlreichen Nebelkerzen ans Tageslicht zu befördern. Das ist die dringlichste Aufgabe von heute.
In den Berichten der drei Oppositionsparteien sind Informationen enthalten, anhand derer die Wahrheit trotz der Nebelkerzen stückweise aufgedeckt werden kann. Es reicht allerdings nicht, diese in Berichten niederzuschreiben. Viel wichtiger ist es, diese Informationen an die Bevölkerung heranzutragen. Denn ohne deren Intervention werden die Berichte lediglich eine „Randnotiz in Geschichtsbüchern“ bleiben.