Prof. Dr. Fulya Atacan, hat die Fragen der Evrensel zum Thema Katar-Krise und die Nahost-Politik der Türkei beantwortet. Wir übersetzen und veröffentlichen das Interview. Prof. Dr. Atacan ist bekannt für ihre Arbeiten zum Thema Naher Osten, Islam und islamische Gemeinden. Sie unterzeichnete den “Friedensaufruf der Intelektuellen”. Daher wurde ihr am 7. Februar aufgrund eines Notstandsdekretes ihre Professur für Politik und internationale Beziehungen entzogen.
Die offenen und geheimen wirtschaftlichen Beziehungen der AKP und Erdogan, die sie mit Katar seit Jahren pflegen, sind seit langem bekannt. Wie schätzen Sie die Unterstützung Katars durch Erdogan ein?
Die Türkei tanzt seit langem auf dünnem Eis. Dass dieser Tanz besonders elegant gelingt, kann man nicht behaupten. Die aktuellen Entwicklungen produzieren Ängste bei der Erdogan Regierung nach dem Motto: “Gut, wir haben Probleme mit dem Westen, wir sind überall isoliert, nichts gelingt so, wie wir es möchten. Dann versuchen wir es eben mit Russland und Iran, aber auch das ist nicht einfach, das wissen wir”. Das ist das Resultat einer uneleganten Tanzweise. Wegen der Erfahrungen der letzten Konflikte ist die Erdogan-Regierung in der Katar-Krise jedoch etwas vorsichtiger. Sie bezieht z.B. keine klare Opposition gegen Saudi Arabien und die USA. Es ist eine Haltung, die sich jederzeit von Katar in eine andere Richtung abwenden könnte.
Was würde es die Türkei kosten, sich abzuwenden?
Es gibt keine Möglichkeit; alle zum selben Zeitpunkt zufrieden zu stellen. Wenn die Türkei dies anstrebt, wird es nicht gelingen, weil es nicht möglich ist. Die NATO verlassen und sich zu Russland zuwenden ist nicht so einfach, wie man sich das vorstellt. Ich denke, die Entscheider wissen das auch. Und wenn sie es nicht wissen, werden sie es bald erfahren. Dann wird auch die Rechnung kommen. Die Rechnung wird selbstverständlich die Türkei in die Schranken weisen. Das ist übrigens auch genau das, was Katar zur Zeit zuteil wird. Der Vorwurf, den man gegenüber Katar erhebt, den Terror zu unterstützen, kann bald ebenfalls gegen die Türkei eingesetzt werden, um sie wieder in Reih und Glied zu bringen. Denn die Türkei hat auch an diesem Punkt keine reine Weste.
Und das jagt der AKP Angst ein?
In dieser Region gibt es niemanden, der eine reine Weste hat. In solchen Kriegen hat jeder gegen jeden einen Vorwurf in der Hinterhand. Das ist nicht die Ursache für die Ängste. Denn jeder weiß von den Leichen im Keller. Die Sorge ist, glaube ich, dass, wenn die Türkei tatsächlich an den Punkt kommt, in die Schranken gewiesen zu werden, die aktuelle Regierung ins Wanken kommen würde. Wenn diese Angst produziert werden kann, dann wird auch die Reflektionsfähigkeit tangiert. Diese Angst wird unter anderem produziert und genährt von der Unabhänigkeit Kurdistans. Als beispielsweise die Autonome Region Kurdistan im Irak öffentlich erklärte, dass sie am 25. September ein Referendum zur Unabhängig durchführen wird, reagierte die Türkei sehr hart.
“Die einzige Frage ist, wer nach der IS die Region kontrollieren wird”
Man sagt, dass die Kräfteverteilung nach der Rakka-Operation problematisch wird, wenn sich die Fronten geklärt haben werden. Was halten Sie davon?
Der eigentliche Kern, die Frage, ist, wer die Region kontrollieren wird und wie sie kontrolliert wird, wenn der IS verjagt wurde. Welche Strukturen werden in Syrien entstehen? Der Kampf um diese Frage läuft bereits. Aus diesen Gründen wird zur Zeit sehr viel diskutiert. Wenn man sich diese Dinge jedoch konkret vorstellen möchte, wissen wir nicht, wer mit wem über was diskutiert und verhandelt. Daher können wir nur vermuten und Wahrscheinlichkeiten formulieren. Aber, ja, es geht darum, wer welche Region unter seine Kontrolle bringt.
Die Entwicklungen im Irak oder Syrien betreffen die Türkei in erster Linie in Bezug auf die Kurdenfrage. Aber das bedeutet nicht, dass die gesamte Nahost Politik ein Bezug zu der Kurdenfrage hat. Wir befinden uns zur Zeit in einer vielschichtigen Konfliktlage. Ein Konflikt ist nicht nur bei einem speziellen politischen Interesse ausschlaggebend. Im Falle der Türkei ist es relevanter, wenn der Irak die Unabhänigkeit von Kurdistan in Aussicht stellt, als das Problem mit Katar. Denn die Prioritäten der Türkei liegt in erster Linie in der Kurdenfrage. Auf der anderen Seite ist das Verhältnis zu Barzani sehr gut. Dieses Verhälnis wird weiterhin nicht in Frage gestellt.
Kann es also sein, dass Erdogan seine harte Reaktion auf das kurdische Referendum wieder relativiert?
Ja, wenn sich die Bedingungen ändern, bestimmt. Erinnern wir uns etwas an die Vergangenheit. Barzani hatte früher sehr erniedrigende Meinung, Wortwahl gegen über der Türkei. Was ist dann passiert? Ist er nicht mit einem Staatempfang begrüsst worden? Ist er nicht der beste Partner geworden? Wenn wir damals dies als Option ausgesprochen hätten, hätte jeder erwidert “Nein, das ist nicht möglich. Die Türkei hat Prizipien. Die Türkei wird das nicht akzeptieren.” Kann sich das alles ändern? Ja, es kann sich ändern, wenn sich die Bedingungen ändern. Uns muss klar sein, dass es vorübergehende Partnerschaften und Kämpfe sind. Es gibt noch keine Ergebnisse. Der Prozess läuft zur Zeit. Wir versuchen aufgrund unserer Beobachtungen diesen Prozess zu interpretieren. Auch wenn uns bestimmte Gedanken unmöglich erscheinen. Aber wenn wir uns zurückerinnern sieht man, dass das Unmögliche möglich und das in Stein Gemeißelte veränderbar ist.
Was muss die Türkei tun, damit sie in diesem Konflikt mit möglichst wenig Schaden davon kommt?
Ich weiß nicht, ob es jetzt noch möglich ist, dass die Türkei wenig Schaden nimmt. Denn in diesem Prozess ist die Türkei viele verschiedene Kooperationen eingegangen, viele Geschäfte getätigt, mal davon profitiert, mal Schaden kassiert. Alle diese Dinge haben eine Rechnung. Daher ist es, glaube ich, jetzt nicht mehr möglich, zu sagen, “Ich stelle mich mal in die Ecke, verstecke mich und bezahle die Rechnung nicht.”
Wie können wir aus dieser Katastrophe wieder heraus?
Ich glaube der einzige Weg führt über eine freiere Gesellschaft. Solche intransparenten Gesellschaften, die nicht wissen, warum welche Entscheidungen getroffen werden, die nicht darüber diskutieren können, sind gezwungen mit den Folgen der Entscheidungen zu leben. Erst wenn eine freie Diskussion möglich ist, kann sich das Potential entwickeln, verschiedene Optionen zu denken. Ist dies für die Türkei denkbar? Ich kann leider nicht sagen, dass ich für die nahe Zukunft zuversichtlich bin.