Was Istanbul an diesem 1. Mai erlebte, erinnerte an vergessen geglaubte Schreckensjahre. Damals wussten die Demonstranten, dass einige von ihnen den 1. Mai nicht überleben würden. Dass vor zwei Tagen keine Todesopfer zu beklagen waren, war einzig der großen Zurückhaltung der Gewerkschaften zu verdanken. Die Polizei ging mit massiver Gewalt gegen Demonstranten vor und schreckte auch vor Waffengewalt nicht zurück.
30.000 Polizisten verwandelten den Taksim-Platz in einen Kriegsschauplatz. Mit Tränengas, Wasserwerfern und Knüppeln gingen sie gegen Demonstranten vor. Es kam zu zahlreichen Verletzten und Gefangennahmen. Bereits in den frühen Morgenstunden griffen Sicherheitskräfte Angehörige der Gewerkschaft DISK an, die sich im Stadtteil Sisli versammelt hatten. Sie wollten von dort aus Richtung Taksim marschieren. Doch die Erdogan-Regierung hatte die Demo mit fadenscheinigen Begründungen verboten. Mal sprach man von einem drohenden Verkehrschaos, mal von Schäden für die Umwelt. Beides wirkte wenig glaubwürdig, denn bei anderen Großveranstaltungen werden problemlos Genehmigungen ausgestellt. Tayyip Erdogan, das Innenministerium und der Gouverneur von Istanbul versuchten alles, um die Demonstrationen zu verhindern. Fähren fuhren nicht, Straßen wurden weiträumig abgesperrt und Sicherheitskontrollen an vielen Stellen errichtet.
Trotzdem konnte die Regierung die Proteste nicht verhindern. Mehrere Gewerkschaften riefen zur Kundgebung am Taksim-Platz auf, um gegen die arbeitnehmerfeindliche Politik der AKP-Regierung zu demonstrieren. Jüngst wurde in der Türkei das Rentenalter heraufgesetzt und die Krankenversicherung erheblich verschlechtert.
Nach der Gewaltorgie machten die Gewerkschaften Erdogan und seine Regierung verantwortlich. Der Generalsekretär der Gewerkschaft DISK Süleyman Çelebi bezeichnete das Vorgehen der Polizei als „Staatsterror“. In Deutschland protestierte die DIDF gegen das Vorgehen der Polizei. „Ministerpräsident Tayyip Erdogan und seine AKP-Regierung sind weit weniger demokratisch als sie sich geben. Friedliche Demonstranten mit beispielloser Gewalt anzugreifen, ist weder demokratisch noch menschlich“, erklärte der DIDF-Vorsitzende Hüseyin Avgan gestern in einer Pressemitteilung.