Die Türkei ist in einer nicht zu unterschätzenden instabilen Lage. Innerhalb eines Jahres fanden mindestens acht Terroranschläge statt. Die Wirtschaft beginnt nicht zuletzt durch die Einbußen der Tourismusbranche unruhiger zu werden. Und jetzt ein Militärputschversuch. Die bisherige Bilanz des gescheiterten Putschversuches in der Türkei von 15.07.16, mit 290 Toten und an die 1500 Verletzten zeigt uns, dass dieser Putschversuch, trotz seiner Unprofessionalität und seines Dilettantismus, durchaus „ernst“ gemeint war und das Land knapp an einer Katastrophe vorbei geschrammt ist. Verschiedene Quellen sprechen von mehr als 50 Generälen und vielen hochrangigen Offizieren, die daran beteiligt sein sollen. Immerhin sind von den bisher 8000 festgenommenen Personen mehr als 3000 aus den Reihen des Militärs. Unter ihnen sollen sich auch die Generäle Adem Hududi, der Chef der Zweiten Armee, Erdal Öztürk, der Chef der Dritten Armee, und Akın Öztürk, der Luftwaffenkommandeur, befinden. Auch ein enger Berater von Erdogan, Ali Yazici, ist unter den Verdächtigten. Auch wenn die türkische Regierung in den letzten Monaten einen sehr schwierigen Stand in der Außenpolitik hatte (außer bei der Frau Merkel) und in der Innenpolitik die kritischen Stimmen immer lauter wurden, saßen Erdogan und die AKP noch fest im Sattel. Insofern sind die Spekulationen, Erdogan hätte das Ganze inszeniert, nicht haltbar. Es steht außer Frage, dass die AKP und Erdogan diesen gescheiterten Putsch in jeglicher Form ausnutzen werden, ihre Machtstellung auszubauen, das langersehnte Präsidialsystem einzuführen (welches de facto schon lange besteht), eine Verfassung in ihrem Sinne durchzupeitschen und vor allem die Opposition zu schwächen.
Ein Machtkampf der herrschenden Klasse untereinander
Deutlich erkennbar ist auch, dass das Militär und einige Kreise der herrschenden Klasse sich in den Umsturzplänen wohl nicht einig waren und die Geheimdienste von den Umsturzplänen früher als erwartet informiert waren, was dazu führte, den Putschversuch nicht wie „gewohnt“ am frühen Morgen zu starten, sondern schon kurz nach 22:00 Uhr. Ein Beleg dafür war auch die im Fernsehen verlesene Erklärung, wo eine Ausgangssperre ab 06.00 Uhr bestimmt wurde. Nicht ohne Grund und nicht nur aus agitatorischen Gründen erklären Staatspräsident Erdogan und Ministerpräsident Yildirim seit Tagen, dass die Säuberungsaktion weitergehen wird. Sie wissen, dass in diesem Umsturzversuch weitere Kreise involviert waren, aber wenn man so will, „in letzter Minute“ einen Rückzieher gemacht haben. Die Gülen-Bewegung als Universalschlüssel bzw. Legitimation für jegliche „Schweinerei“ wird auch nicht ewig halten können. Denn immerhin waren Erdogan und Gülen bis 2013 wie „Pech und Schwefel“. Die zu häufig unterschätzte Gülen-Bewegung ist zwar in ihrer Weltanschauung oder politischen Ausrichtung nicht minder reaktionär als Erdogan und die AKP, doch dermaßen stark ist diese radikal-islamische Gruppe aber auch nicht. Erdogan und seine Partei AKP polarisieren weiter. Ihre Aufrufe, auf die Strassen zu gehen, „Terroristen“ zu bekämpfen, münden in „Lynchorgien“ des Mobs, wo IS Anhänger und andere dschihadistischen Gruppen mit den radikalen AKP-Anhängern, in einer sadistischen Art die festgenommenen Soldaten misshandeln und HDP Büros und Journalisten angreifen. Damit nicht genug, bringen Erdogan und seine AKP die wieder Einführung der Todesstrafe ins Gespräch, die erst seit 2004 rechtlich abgeschafft ist.
Solidarisieren wir uns für eine säkulare und demokratische Türkei
Fest steht, dass ein Militärputsch keine Demokratie herbeiführen wird. Die jüngere Geschichte der Türkei hat uns gezeigt, dass ein Militärputsch nicht zur Demokratie und Freiheit führt. Die Frage, ob Erdogan/AKP-Diktatur oder Militärdiktatur, wäre eine Entscheidung zwischen Pest und Cholera. Die einzige Alternative und der Weg zur Befreiung der Bevölkerung ist die Errichtung einer wahrhaft säkularen und demokratischen Türkei. Der einzige Weg aus dieser antidemokratischen Sackgasse ist der gemeinsame Kampf der Arbeiterklasse und der Unterdrückten für demokratische Rechte und politische Freiheiten.
Seit langem werden in Europa und in Deutschland der Umgang mit der türkischen Regierung diskutiert. Trotz aller Deutlichkeit, wie die Erdogan/AKP-Regierung zu einem faschistischem Regime mutiert, wurde nicht zuletzt im Zuge der Flüchtlingsdebatte mit ihr die Zusammenarbeit weiter ausgebaut. Den Menschen in der Türkei und der demokratischen Öffentlichkeit bringen „warme Worte“ oder „verhaltene Kritik“ gar nichts. Die Bundeskanzlerin hat in den letzten zehn Monaten die Türkei öfter besucht als in den letzten zehn Jahren. Hofieren eines Diktators kann nicht als „diplomatische Gepflogenheiten einhalten“ akzeptiert werden. Dass es auch anders geht und die „diplomatischen Gepflogenheiten“ durchaus je nach Interessenlage variieren, zeigt die Bundesregierung im Falle von Russland und Ukraine ganz deutlich.
Die eigentliche und wesentliche Solidarität mit der Demokratiebewegung und den oppositionellen Kräften der Türkei kann nur von der demokratischen Öffentlichkeit und Kräften in Europa und Deutschland kommen. Es ist unser aller Aufgabe, diese Solidarität gerade jetzt weiter zu intensivieren. Das ist gegenwärtig nötiger denn je.