Nach dem Referendum zur Verfassungsänderung in der Türkei vom 16. April 207, für das auch Türkeistämmige im Ausland ihre Stimme abgeben konnten, ist die Debatte um die Integration von neuem entfacht. Festzustellen ist: das „Neue“ an dem aktuellen Diskurs ist die Behauptung, „die Integration sei gescheitert“.
An dieser Behauptung angelehnt, sind die Schlussfolgerungen seitens der etablierten bürgerlichen Politik ebenfalls „neu“: „Die Türkeistämmigen lassen sich einfach nicht integrieren“. „Den Doppelpass wegnehmen – zur Loyalität (Entscheidung) zwingen“. „Die, die für Erdogan gestimmt haben, sollen doch in die Türkei gehen“.
Was ist passiert?
Die Türkei hat am 16. April 2017 ein Referendum um eine Verfassungsänderung durchgeführt. Die in Deutschland lebenden Türkeistämmigen durften ebenfalls ihre Stimme abgeben. Die Wahlbeteiligung der stimmberechtigten Türkeistämmigen in Deutschland blieb mit knapp unter 50 % hinter den Erwartungen von Erdogan und der AKP zurück. Alle Versuche, die Polarisierung des türkischen Wahlkampfes nach Deutschland zu übertragen und die diplomatischen Krisen mit Deutschland, Holland und anderen EU-Ländern für ein Ja zu nutzen, fruchteten eher weniger, als seitens der türkischen Regierung erhofft in der Gesamtzunahme der Ja-Stimmen, sondern wirkten eher dadurch, dass AKP-MHP-Anhänger sich mehr von der Mehrheitsgesellschaft entfernten und sich in Richtung Türkei orientieren. Die Zustimmung zur Verfassungsänderung in Deutschland liegt zwar bei 63 % und ist somit etwas höher, als im türkischen Durchschnitt, trotzdem sollte dieses Ergebnis (angesichts der Tatsache, dass knapp eine Million der 1,4 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland dem Präsidialsystem durch ein Nein oder Urnengangverweigerung nicht zugestimmt haben) beunruhigen, aber nicht überbewertet werden.
Der AKP-MHP-Block („Ja-Lager“) hatte bei den Parlamentswahlen im November 2016 mit 67,2 % (entspricht 382.700 Stimmen) mehr Zustimmung, als beim Referendum mit 63 % trotz Stimmzunahme (412.149 Stimmen) und der Nein-Block (CHP und HDP) hat mit 241.353 NeinStimmen einen Anteil von 37 % beim Referendum, obwohl er 66.000 Stimmen mehr als im Vergleich zu den Parlamentswahlen einholen konnte.
Dieses Referendum hat in Deutschland in zweierlei Hinsicht einen negativen Effekt auf unser Zusammenleben hier gehabt, der nicht in Kürze überwunden werden kann und vor allem nicht allein durch „Erdogan-Kritik“ zurückgedrängt werden kann. Die hiesige Regierung sollte sich ernsthaft Gedanken darüber machen, warum sich immer noch so viele Türkeistämmige nicht akzeptiert, nicht gleichwertig behandelt und ausgegrenzt fühlen.
Erdogan und die AKP haben es zum einen geschafft, die Türkeistämmigen hier in zwei Lager (Befürworter und Gegner von Erdogan) zu spalten. Zum anderen hat diese Polarisierungspolitik die Türkeistämmigen von der Mehrheitsgesellschaft/ Deutsche weiter entfernt.
Irrweg deutscher Türkei-Politik: Wie sieht es mit den deutsch-türkischen Beziehungen aus?
Noch vor einem Jahr haben sowohl die deutsche Seite, wie auch die türkische, immer wieder betont, dass die Türkei und Deutschland schon seit über einem Jahrhundert enge und gute Beziehungen pflegen und manche Meinungsunterschiede diese Ausrichtung nicht stören können.
Wahr ist, dass schon in der Zeit des Osmanischen Reiches diese bilateralen Beziehungen bestanden und im Ersten Weltkrieg die Türkei an der Seite Deutschlands in den Krieg zog und im weiteren Verlauf, diese Allianz in
der NATO bis heute weitergeführt wird. Aktuell sind die Beziehungen, im Zuge der Auseinandersetzungen um den Luftwaffenstützpunkt Incirlik, angespannt. Wie es weitergehen wird, ob Deutschland den Stützpunkt nach Jordanien verlegt, sei erst einmal dahin gestellt. Fakt ist, dass die engen wirtschaftlichen und politischen Beziehungen trotz allem weitergehen.
Deutschland ist der wichtigste Handelspartner der Türkei. Nach den Niederlanden ist Deutschland der größte ausländische Investor. In der Türkei gibt es über 6.800 deutsche bzw. türkische Unternehmen mit deutscher Kapitalbeteiligung. Belastet haben die Beziehungen auch die Auftrittsverbote für türkische Regierungspolitiker, während des Referendums, die Spionageaktivitäten des türkischen Geheimdienstes (MIT) in Deutschland, die Verhaftung des Türkei-Korrespondenten der „Welt“, Deniz Yücel und die Aufnahme Deutschlands von Asylanträgen türkischer Soldaten. Das Zerwürfnis zwischen der AKPRegierung und Deutschland wird nach allem Anschein nicht so weit gehen, dass die grundsätzlichen geostrategischen Interessen sensibel getroffen werden. Immerhin wird der Flüchtlingsdeal von beiden Seiten weiter aufrechterhalten. Auch die Rüstungsgeschäfte gehen weiter. Wenn das nicht unterbunden wird, ist der Rüstungskonzern Rheinmetall gerade dabei, in der Türkei eine Panzerfabrik zu errichten. Nicht zu vergessen sind die Türkeireisen der Bundeskanzlerin, die zufälligerweise immer vor entscheidenden Wahlen stattgefunden haben.
Ein weiteres zentrales Interesse des Westens ist auch zu verhindern, dass die Türkei sich nicht weiter in Richtung Schanghaier Organisation orientiert, der die Türkei seit 2012 als sogenannter „Dialogpartner“ beiwohnt. In diesem Zusammenhang fordern wir: Waffenlieferung stoppen! Die politische und geheimdienstliche Zusammenarbeit muss, bis der Ausnahmezustand aufgehoben wird, auf Eis gelegt werden! Die polizeiliche und militärische Zusammenarbeit muss gestoppt werden! Abzug der Bundeswehr von allen Stützpunkten in der Türkei! Rheinmetalls Vorstoß für eine Panzerfabrik in der Türkei muss unterbunden werden!
Die eigentliche Musik spielt hier
Wenn in Deutschland (seit Jahrzehnten) von Zuwanderung und Integrationsproblemen die Rede ist, geht es meist um Schuldzuweisung und Anklagen gegen Migranten, „Integrationsunwillig“ zu sein. An dieser Stelle kommt die Ursachenforschung von Abschottung (Segre
gation) und Unsicherheit zu kurz oder wird überhört. Wenn diese „eindimensionale“, abwertende und androhende Politik weitergeführt wird, kann es zu Folge haben, dass eine generationsübergreifende soziale Isolation von Migranten, mit ernsthaften negativen Konsequenzen für alle, sein wird.
Die bislang vorliegenden Forschungen und Erkenntnisse machen doch deutlich, dass die sozialen Faktoren die größte Rolle an den Integrationsdefiziten spielen. Diesen Aspekt auszuklammern oder zu relativieren, überdeckt die wahren Gründe der Defizite. Der populistische Spruch: die Probleme kämen daher, weil „die Politik, Sozialromantik betreibe und nicht härter durchgreife“ hat weder eine wissenschaftliche noch eine gesellschaftspolitische Substanz.
Keine Frage, das Abstimmungsverhalten der Türkeistämmigen und die Positionierung/Neuorientierung vieler Türkeistämmiger zur Türkei, verdeutlichen die Integrationsdefizite/Probleme unserer Gesellschaft. Ob diese Defizite nur den Migranten aufgebürdet werden können, ist sehr skeptisch zu betrachten. Der Einfluss des türkischen Staates auf die hier lebenden Türkeistämmigen hat in den letzten Jahren immens zugenommen. Die regierende AKP hat hier volle Arbeit geleistet.
Nicht die Integration ist gescheitert, sondern die Nicht-Integrationspolitik der Regierung
Nach dem Anwerbeabkommen mit der Türkei, leben in Deutschland seit Oktober 1961 in großer Zahl Türkeistämmige. Etwa 900.000 von ihnen (insgesamt leben ca. 3 Millionen Türkeistämmige in Deutschland) haben die deutsche Staatsbürgerschaft angenommen. Dieser Prozess der Einwanderung gewann mit der Zeit an Eigendynamik. Die Politik hat diesen Prozess Jahrzehnte lang ignoriert und nur dann reagiert, zu meist skandalisiert, wenn anschwellende Probleme, wie steigende Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Schwierigkeiten in der Bildung u.ä. unübersehbar wurden.
Allein die verwerflichen Kampagnen in der Vergangenheit, wie: „ Kinder statt Inder“, „ Das Boot ist voll“ oder „Deutschland wird islamisiert“, illustrieren wie „Nicht-Integrationspolitik“ betrieben wurde. Es entbehrt jeder Logik, wie die NSU-Morde zu Stande kamen und wie damit umgegangen wurde und wird. Da ziehen Nazis (mit einem komischen (ich würde hier „erwiesenen“ benutzen) Zusammenhang mit dem Verfassungsschutz) durch das Land und ermorden zehn Menschen. Die ersten Reaktion Diskriminierung und Ausgrenzung haben rechte Parteien und Organisationen, wie die AfD oder Pegida, ein leichtes Spiel, die Menschen zu manipulieren und gegeneinander auszuspielen. Und seit einigen Jahren schwebt über unseren Köpfen das Damoklesschwert „Innere Sicherheit“ und „Anti-Terrorbekämpfung“.
Natürlich wäre es fatal zu behaupten, die Migranten hätten keinen Beitrag für ein besseres Zusammenleben zu erbringen oder mehr das „Verbindende“ zu suchen als das „Trennende“. Doch für eine Fokussierung auf das „Gemeinsame“ müssen die Bedingungen geschaffen werden. 60 Jahre hier leben und immer noch kein Wahlrecht zu haben, ist eines der Hindernisse, die aufgehoben werden müssen. Ohne Partizipation und die dafür notwendigen Voraussetzungen, wie das Wahlrecht, wie gleiche politische und soziale Rechte, kann eine tatsächliche Integration nicht gelingen.
Trotz allem aber teilen wir nicht die Meinung, dass die Integration gescheitert sei. Wir sind der Meinung, dass für eine substanzielle Integration zu wenig getan wird. Die neu aufgelegte Debatte über eine Leitkultur ist in dieser Hinsicht wenig hilfreich. De Maiziers Leitkultur ist plakativ und populistisch und zielt darauf ab, die an die AfD verlorenen Wähler zurück zu holen. Hierbei vermischt er willkürlich Gefühle, Emotionen, Rechte und Pflichten. Politische oder ideologische Entscheidungen oder Richtungen, die sich ändern können, werden zur deutschen Leitkultur erkoren. Populistisch wird die deutsche Leitkultur mit dem
Reizwort „Wir sind nicht Burka“ untermauert. Er erklärt die NATO, eine Allianz, die die völkerrechts- und verfassungswidrige Kriege führt, einfach mal zur deutschen Leitkultur. Im Kern trägt der Innenminister wenig Produktives zur Debatte über Normen und Werte bei, die aber durchaus geführt werden sollte. Denn, wenn es eine „Leitkultur“ geben soll, dann sollte das die Kultur des Friedens, der Solidarität, der Menschlichkeit und der Gleichberechtigung sein.
Die Frage der Integration ist keine kulturelle oder ethnische Frage. Sie steht im direkten Zusammenhang mit der sozialen Frage. Alles auf die Sprachkompetenz zu reduzieren wäre ebenfalls irreführend. Das Gelingen der Integration entscheidet sich daran, wie ihre Sitiation in der Arbeitswelt, in der Bildung-und Ausbildungsituaton, im Zugang zur Gesundheitsversorgung und anderen sozialen Bereichen verbessert und ausgebaut wird. Gleiche Pflichten aber auch gleiche Rechte auf allen Ebenen des Lebens sollte die Prämisse sein.
Ein „Neuanfang“ könnte durch die Aufhebung jeglicher Barrieren für die Einbürgerung sein. Damit verbunden, sollte ernsthaft über das allgemeine Wahlrecht nachgedacht werden und gegen Rechts und Rassismus (von wem auch immer- ob türkische Rechte oder Deutsche) entschiedener vorgegangen werden.
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