Merkel in der Türkei, Referendum für Erdogans Präsidialsystem steht bevor
Von Peter Schaber Als die deutsche Bundeskanzlerin kurz vor den Parlamentswahlen im November 2015 in die Türkei reiste, um Recep Tayyip Erdogan ihre Aufwartung zu machen, war die demokratische Opposition dort empört. Sie wertete die Visite als klare Unterstützung des Autokraten. Am heutigen Donnerstag fliegt sie erneut nach Ankara. Nun steht in der Türkei eine ungleich wichtigere Abstimmung an: Im April 2017 sollen die Bürger in einem Referendum darüber entscheiden, ob ihr Land in eine Diktatur umgewandelt werden kann, in der Legislative, Exekutive und Judikative im allmächtigen Amt des Präsidenten vereint sind.Seit Jahren betreibt der Staatspräsident die Umsetzung dieses den europäisch-vorderasiatischen Staat in seinen Grundfesten erschütternden Projekts: Alle einigermaßen unabhängigen Medien wurden zum Schweigen gebracht, große Teile der politischen Opposition verboten, verfolgt und kriminalisiert. Aus den Universitäten sind kritische Wissenschaftler entfernt worden, das Schulsystem ist komplett umgestaltet und entsprechend der Ideologie der Regierungspartei AKP ausgerichtet. Gegen die kurdische Befreiungsbewegung führt die Türkei einen brutalen Krieg, Hunderte Zivilisten sind 2016 von Regierungstruppen ermordet worden.Die von der größten Oppositionspartei CHP und der linken HDP betriebenen Kampagnen für ein »Nein« beim anstehenden Referendum werden von der Regierung systematisch sabotiert – auch durch die Aufrechterhaltung des seit Juli 2016 bestehenden Ausnahmezustandes (OHAL). Auf Grundlage des OHAL werden täglich Oppositionspolitiker und demokratische Aktivisten festgenommen. »Es ist klar, dass die Referendumskampagne der Allianz zwischen Erdogan, der AKP und der (ultranationalistischen, jW) MHP unsere Parlamentarier durch unrechtmäßige Verhaftungen einschüchtern will«, erklärte die HDP kürzlich in einer Stellungnahme.
Angela Merkels Reise nach Ankara findet in einer politischen Atmosphäre statt, die aufgeladener nicht sein könnte. Dennoch reklamiert Regierungssprecher Steffen Seibert, Merkel fahre nur zu einem normalen Arbeitstreffen in die Türkei. Jeder Gedanke, es gebe einen Zusammenhang mit dem Verfassungsreferendum, sei »absurd«. Anders sieht das CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu. Selbst wenn die Kanzlerin andere Intentionen habe, würde ihr Besuch Erdogan die Gelegenheit für Propaganda geben: »Seine Botschaft wird sein, dass Merkel die Türkei besuchte, um seine Politik zu unterstützen«, so der Vorsitzende der kemalistischen Opposition.
In Deutschland protestieren seit gestern linke türkische Exilorganisationen bundesweit gegen die Ankara-Reise der Kanzlerin. Die Demonstrationen sollen in vielen Städten noch bis Freitag andauern. Die Föderation Demokratischer Arbeitervereine (DIDF) forderte am Mittwoch das Ende der »Kumpanei mit dem Diktator Erdogan«. Angela Merkel solle sich vor allem mit den Demokraten in der Türkei treffen: »Frau Merkel, hören Sie diesen Menschen zu! Hören Sie ihnen zu und beenden Sie endlich Ihre unsägliche Unterstützung für Erdogan!«